Wissenschaftliches Verständnis für hochkomplexe Reaktionsmechanismen
Die Tagung Bauchemie führt alljährlich Bauchemiker und andere an der Bauchemie interessierte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus Hochschulen, Unternehmen, Forschungsinstitutionen und Verbänden zusammen und gibt ihnen eine Plattform für die Präsentation neuester Ergebnisse, den fachlichen und persönlichen Austausch und zur Diskussion. 2011 befasste sich die Tagung in ihrem ersten Teil mit dem interessanten Schwerpunktthema “Nachhaltige Baustoffe der Zukunft”. Über die Entwicklung der Bauchemie sprach die ZKG mit Hubert Motzet, Leiter Research & Development, AkzoNobel Building Adhesives, und Vorsitzender der GDCh-Fachgruppe Bauchemie.
ZKG: Sehr geehrter Herr Motzet, welche Themen beschäftigen die Bauchemie gerade?
Hubert Motzet: Die Bauchemie ist ein Fachgebiet, in dem Grundlagenforschung und Anwendung eng zusammen liegen. Daher sind die Themen in Forschung, Entwicklung und Anwendung ein Spiegelbild der Themen, die unsere Gesellschaft momentan bewegen. Derzeit dominieren Fragestellungen rund um das Thema Klimawandel und seine Folgen. Wie können wir dem Klimawandel einerseits begegnen und andererseits seine Auswirkungen abmildern. Durch Bautätigkeiten werden immense Massen- und Energieströme generiert, so dass für die Bauchemie materialbezogene Aspekte im Vordergrund stehen. Wie können wir Baustoffe mit geringerem Treibhauspotential entwickeln? Wie können durch höhere Leistungsfähigkeit der Baustoffe das Volumen an Baumaterialen reduziert werden? Die Bauchemie ist aufgefordert, Baustoffe mit vorbildlicher Ökobilanz anzubieten und klimaschonende Bauweisen zu ermöglichen.
ZKG: Inwiefern wird dabei der allgegenwärtigen Forderungen nach nachhaltigen und innovativen Baustoffen nachgekommen?
Hubert Motzet: Gerade die deutsche und europäische bauchemische Industrie ist technologisch weltweit führend. Kostendruck, regulatorische Auflagen als auch die hohe Erwartungshaltung der Bauträger sorgen für einen extremen Ansporn, innovative, hoch effiziente und langlebige Produkte zu entwickeln. Neben Funktionalität und Kostenrahmen kommen heutzutage Fragen der Nachhaltigkeit und des Klimaschutzes hinzu. Unsere Gesellschaft fragt nach grünen Lösungen. Man möchte Komfort mit ruhigem Gewissen genießen. Viele Forschungstätigkeiten beschäftigen sich damit, Zemente mit niedrigerem CO2-Emissionspotential zu entwickeln. Dies führt über die gängigen Kompositzemente, in denen der Portlandzementklinker teilweise durch latent hydraulische Anteile ersetzt wird, bis hin zu grundlegend neuen mineralischen Bindemitteln. Solche neuen Bindemittelsysteme erfordern z. B. völlig neue Formulierungsansätze für die Trockenmörtelindustrie.
ZKG: Wo oder wie sehen Sie persönlich die Zukunft der Bauchemie?
Hubert Motzet: In der Bauchemie basiert konkrete Produktentwicklung auch heute noch überwiegend auf Erfahrungswerten und wird im trial and error Verfahren praktiziert. Wir haben erst in den letzten Jahren begonnen, ein wissenschaftliches Verständnis für die hochkomplexen Reaktionsmechanismen zu entwickeln. Die Bauchemie wird noch viel mehr auf moderne Analysenverfahren und Methoden der Modellierung setzten. Dazu benötigen wir hochqualifizierten Nachwuchs. Dies ist eine Aufgabe, der wir uns gemeinschaftlich zwischen Hochschule und Industrie widmen müssen. Die Produktentwicklung führt von monofunktionalen Baustoffen zu multifunktionalen Baustoffen. Eine Fassade beispielsweise muss nicht nur vor Wind und Wetter schützen, sondern zusätzlich temperaturregulierend wirken, schmutzabweisend und antibakteriell sein sowie Luftschadstoffe zu reduzieren helfen.
ZKG: Welche Bindemittel- oder Wirksysteme erscheinen Ihnen dabei am vielversprechendsten?
Hubert Motzet: Da im Bauwesen immense Massenströme bewegt werden, stellt sich stets die Frage nach der Verfügbarkeit an Rohmaterialien. Als 2009 die Stahlproduktion in Deutschland rückläufig war, wurden plötzlich Hochofenschlacken, eine wichtige Quelle für Kompositzemente, knapp. Aus heutiger Sicht müssen wir in erster Linie den Verbrauch an Massenbaustoffen durch intelligente, multifunktionale Hochleistungsbaustoffe reduzieren. Beim Thema Recycling stehen wir erst am Anfang, was eine echte Wiedergewinnung der Ausgangsstoffe betrifft. Erst wenn wir diese beiden Schritte im Griff haben, können alternative Bindemittelsysteme einen wesentlichen Beitrag zur Rohstoffversorgung leisten.
Skeptisch bin ich in Bezug auf nachwachsende Rohstoffe als Grundlage für organische Zusatzmittel. Es ist eine ganzheitliche Betrachtung notwendig, zu entscheiden, ob Ackerflächen für die Gewinnung von Energie, als Basis für organische chemische Produkte oder zur Nahrungsmittelproduktion genutzt werden sollen.
ZKG: Kann man auf internationaler Ebene Unterschiede erkennen, und wenn ja, welche?
Hubert Motzet: Hier muss man zwischen hoch entwickelten Ländern und Schwellenländern unterscheiden. Während in hoch entwickelten Ländern Leistungsfähigkeit und Nachhaltigkeit der Baustoffe sowie der Komfort für den Nutzer im Vordergrund stehen, besteht die Nachfrage in Schwellenländer in erster Linie nach einfachen, robusten und auch bezahlbaren Lösungen. Natürlich finden Sie auch Unterschiede je nach Klimazone und Traditionen in der Bauweise. Wir Deutschen verlangen nach soliden, dauerhaften Bauwerken, wogegen in vielen anderen Regionen der Erde möglichst preiswert für einen überschaubaren Zeitraum gebaut wird. Massivbau verlangt andere Baustoffe als z. B. die Holzbauweise.
ZKG: Was werden die Schwerpunkte bzw. wichtige Themen der nächsten Bauchemietagung in der Schweiz sein?
Hubert Motzet: Die nächste Tagung Bauchemie wird am 11. und 12. Oktober 2012 an der EMPA Dübendorf in der Schweiz stattfinden. Auch dort wird ein Schwerpunkt wieder dem Thema nachhaltige Baustoffe gewidmet werden. Dieses Thema hat der Fachgruppenvorstand für die Jahre 2010 – 2014 in den Mittelpunkt seiner Aktivitäten gestellt. Daher werden wir im Frühjahr 2013 zusätzlich einen eigens darauf ausgerichteten Workshop organisieren.
2012 wird aus den Arbeitsgruppen um Herrn Dr. Frank Winnefeld und Frau Dr. Barbara Lothenbach von der EMPA Dübendorf u.a. über thermodynamische Modellierung in der Bauchemie berichtet werden.
ZKG: Vielen Dank für das Interview.